Flucht nach Deutschland

Flucht nach Deutschland

Leseprobe

MARTIN ROHÉ

In dem Viertel, in dem ich zu der Zeit wohne, steht der sogenannte „Tower“ aus Ludwigsburg: das Adolf-Reichwein-Haus. Der Name steht für Widerstand gegen die Obrigkeit.
Ein Studentenwohnheim, das ziemlich heruntergekommen ist. Schädlingsbefall, oft nur kaltes Wasser und sehr beengte Räume. Zwanzig Personen pro Stock. Menschen aus der ganzen Welt wohnen dort und treffen in der Küche aufeinander. Ein Stimmengewirr, dem nur schwer zu folgen ist. Von überall kommen seltsame Gerüche. Geräusche lassen einen hochschrecken. Ich nehme mir vor, in jedem der zwölf Stockwerke einmal für mindestens 3 Wochen zu wohnen. (Ich habe die Hälfte in einem Jahr geschafft). Ich hoffe, in den vielen kleinen Geschichten eine große zu finden. Trotz der vielen Eindrücke, komme ich nicht richtig weiter. Die Freude ist sehr groß, als ich auf meinen lieben Freund Jan Galli treffe. Er studiert Drehbuch und wir sprechen eine gemeinsame Sprache.

Unser Projekt trägt den ersten Arbeitstitel Monkey Mountain, weil das Studentenwohnheim aus meiner Heimatstadt Braunschweig Affenfelsen heißt. Die ganze Welt an einem Ort vereint. So beginnen wir eine immer noch andauernde Supervision, wie wir es nennen, und überlegen uns, was für einen Film wir machen werden. Wir sind der Meinung, dass der schäbige Tower auch ein Asylbewerberheim sein könnte und entscheiden uns dies als Ausgangsposition für unsere Geschichte zu setzen. Wir begeben uns auf Recherchereise.

Von meinem kleinen Studienkredit kann ich mir nur für ein paar hundert Euro ein altes, kaum noch intaktes, französisches Auto kaufen. Der Zustieg ist behäbig über die Beifahrerseite möglich, doch es bringt uns voran. Wir besuchen viele Asylbewerberheime und öffentliche Einrichtungen für Integration.

JOHANNES SIGEL

Berlin ist nachts laut, wenn man nicht schlafen kann. Im Zimmer stinkt es nach Zigaretten. Martin - direkt neben mir - bearbeitet noch die Tastatur seines Laptops. Das Sofa ist unbequem, unser zukünftiger Tontechniker schnarcht. Warum bin ich eigentlich mitgekommen?

Ich habe Film ja nie studiert, gerade erst habe ich meinen Master in Bildungsforschung abgeschlossen und hätte jetzt Urlaub machen können. Martin tippt weiter, der Laptop wirft ein fahles Licht auf sein Gesicht, was ihm mit seinem Bart ein ehrwürdiges Aussehen verleiht, ein bisschen wie Che Guevara.

Bestimmt schreibt er noch Kontakte an, der Doktor verpflichtet. Als ich Jan und Martin ein paar Monate zuvor kennenlernte, steckte ich in einer handfesten Midlifecrisis. 36 Jahre alt, verzweifelt auf der Suche nach der einen wahre Liebe, lebte ich in einer 9 qm Studentenbude im Tower. Der Tower (gewisse Assoziationen zu Stephen Kings gleichnamigen Thriller sind durchaus angebracht) ist ein billiges Studentenwohnheim in Ludwigsburg, ein großer grauer Block mit dunkler Vergangenheit. In den 90er Jahren sind dort jährlich Studenten vom Dach des 12. Stockes heruntergesprungen, der damalige Besitzer wanderte ins Gefängnis.

Die ersten Begegnungen mit Jan und Martin fanden hier statt. Im Nachhinein erscheint mir dieser Ort prädestiniert als Brutstätte für ein Drehbuch, indem es um Flüchtlinge und Asylheimen geht. In jedem Stockwerk leben hier 20 Menschen verschiedenster Herkunft nebeneinander, manchmal miteinander, die Gemeinschaftsküchen erinnern an die Asylheime, die Möbel stammen aus den 70ern. Martin lebte zeitweilig auf unserem Stock, sein Zimmer war ein beliebter Treffpunkt, der die unterschiedlichsten, teilweise schrägen Besucher anzog. Nach trockenen Vorlesungen über Zahlen und Statistiken der Bildungsforschung oder Schreibtischarbeit im Büro erschienen mir die anfangs zufälligen Treffen in Martins Zimmer als Übertritt in eine andere Welt. Eine willkommene Gegenwelt, in der beispielsweise zwei Filmestudenten auf dem Boden saßen, qualmten und dabei nach Herzenslust stritten, sinnierten, soufflierten und debattierten, ob ein Papagei des Asylbewerberheims einen islamischen Namen (gar den des Propheten) tragen darf und ob es sinnvoll ist, dass der Heimsozialarbeiter Uwe mit einer Prostituierten schläft. Schräge Helden und Antihelden (Protagonist stets männlich!) bevölkerten multiple Drehbücherwelten. Ideen entstanden synchron zu den Rauchschwaden mit Leichtigkeit, wurden geprüft und verworfen, die tauglichen gewissenhaft von Jans Bleistift und Notizbüchlein erfasst. Die Sessions waren offen, der Dritte im Bunde willkommen.

MARTIN ROHÉ

Jan entdeckt, dass der Chefredakteur Dr. Peter Frey eine Schirmherrschaft über den Malteser Hilfsdienst in Deutschland hat. Wir Informieren uns über diese Ambulante Versorgungsstelle, die aus sich im Ruhestand befindeten Ärzten besteht, die keine Fragen stellen. Eine Anlaufstelle für Menschen, die in Deutschland nicht ohne Weiteres behandelt werden können, weil sie illegal hier leben oder einfach nicht krankenversichert sind. Wir finden das sehr spannend, weil es sehr gut zu unserem Film passt und besuchen eine dieser Einrichtungen in Stuttgart. Es gibt in allen großen Städten diese kleinen Arztpraxen. Wer von außerhalb kommt, muss manchmal hunderte von Kilometern fahren.

Wie der Zufall es will, soll ich kurz eine Werbetafel halten und werde mit dem Malteserlogo in der Hand fotografiert. Dieses Foto, einen rührseligen Brief und die Beschreibung unseres Projektes schicken wir an den Chefredakteur vom Zweiten Deutschen Fernsehen. Es kommt keine Antwort. Ich bleibe hartnäckig und rufe immer und immer wieder an. Leider werde ich jedes Mal vertröstet. Endlich meldet sich der Assistent des Chefredakteurs und sagt, dass unsere Idee großartig sei. Wir werden an eine Jury empfohlen, die in der Lage ist unser Vorhaben finanziell zu unterstützen. Ich habe kaum noch einen Ausweg gesehen. Es ist manchmal zum Haare raufen. Ein auf und ab aus Hoffnung und Verzweiflung.

„Get behind the mule“ von Tom Waits dröhnt verzerrt aus unseren heruntergekommenen PC-Boxen in unserem Büro. Es ist kochend heiß und kaum auszuhalten. In Badehose lassen Jan, Johannes und ich unsere verschwitzten T-Shirts am Griff zum Dachfenster unseres Büros trocknen. Es ist eine kleine Dachkammer in unserer Hochschule. Ich habe gerade meine Wohnung verloren und lebe mehr oder weniger an unserem Arbeitsplatz. Zwischen zehn und elf Uhr am Abend und zwischen zwei und halb vier in der Nacht muss ich wach sein, um keinen Ärger mit dem Wachmann zu bekommen, der regelmäßig seine Runden dreht. Es ist nicht leicht in Baden-Württemberg eine neue Wohnung zu finden. Studenten sind unbeliebt, bei Ausländern und Schwangeren werden leicht mal die Augen gerollt. Zu wenige freie Wohnungen für zu viele Bewerber. Ein harter Kampf steht mir bevor. In sechs Wochen werde ich heiraten, drei Monate später werde ich zum ersten Mal Vater werden. Wir haben kaum Geld und oft reicht es gerade so für die Miete.

Meine Frau gibt mir Kraft, aber werde ich diesem ganzen Druck standhalten können?! Ich finde eine Wohnung zur Zwischenmiete für zwei Monate. Das gibt mir die nötige Zeit eine geeignete Wohnung für meine Frau, mich und unser ungeborenes Kind zu finden. Die Wohnung ist schrecklich, ein Zimmer, was gleichzeitig auch die Küche ist, an der Südseite gelegen. Die Luft steht ächzend schwül, dass man es kaum noch aushalten kann. Es liegt direkt an einer Zufahrtstrasse zum Krankenhaus. Die Sirenen lassen einen nur schwer Ruhe finden. Dennoch ist die Wohnung doppelt so teuer, wie mein Zimmer im Studententower. Zu dieser Zeit übernehme ich fast alle Haushaltskosten, da meine Frau keinen Studienkredit erhält.

Wir sind, wie gefangen und kommen nicht so richtig weiter. Doktor Afarid steckt fest. Wir verlieren Teammitglieder, die den Glauben an unser Projekt verloren haben. Endlich gibt es gute Nachrichten von einer anderen Front – ein geeigneter Ort für meine Hochzeit scheint gefunden zu sein – ein verlorener Märchengarten inmitten des Herzens Stuttgarts. Ich wusste nicht, wie ich eine Hochzeit bezahlen könne. Der Garten muss nur hergerichtet werden. Victor, den ich auf der ersten Deutschlandtour im Asylbewerber-Protestkamp in Berlin kennengelernt habe, kann ich eine Anstellung besorgen.

JOHANNES SIGEL

Inzwischen sind wir am Oranienplatz angelangt. Das Protestcamp erinnert mich, wenn man von den vielen Schildern und Bannern absieht, an ein kleines Indianerdorf. Im Eingangszelt werde ich aber auf einen sympathischen Afrikaner aufmerksam, der sich mir als Victor aus Nigeria vorstellt.

Ich bitte ihn sogleich um ein Interview. Er erklärt sich freudig bereit und schnell finden wir ein leerstehendes Zelt für eine ungestörte Befragung. Die Geschichte, die ich nun höre, ist unglaublich und ich wünsche mir im Nachhinein, dass ich für dieses Interview psychologisch geschult worden wäre. Im Laufe des Gesprächs begreife ich, dass man das Schicksal von Kriegsflüchtlingen eigentlich nur dann nachvollziehen kann, wenn man den Krieg am eigenen Leib erfahren hat.

Victor wird 1986 im Süden Nigerias, im Bundesstaat Delta geboren. In der Region Niger-Delta werden die Konflikte und Spannungen, die zwischen den verschieden Bevölkerungsgruppen, Gruppierungen und Stammesverbünden herrschen, durch die Ölkriege angeheizt

Die Lage spitzt sich im Laufe seiner Jugend zu, Städte wie Kanoun kann er als Christ jetzt nur unter großer Lebensgefahr betreten.

In seiner nahen Umgebung kommt es zu kriegerischen Auseinandersetzungen. Als sich Soldaten seinem Dorf nähern, flieht er panikartig mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester. Auf der Flucht, die chaotisch verläuft, kommt es zu einem schweren Unfall mit einem anderen Auto, dabei stirbt sein Vater.

Victor unterbricht seine Erzählung an dieser Stelle kurz, sein sonst stoisches, ernstes Gesicht verrät, dass er um Fassung bemüht ist, er kämpft mit den Tränen, vermute ich. Als er fortfährt, berichtet er, wie er mit seiner Mutter und Schwester weiter fliehen muss und ihnen keine Zeit zur Trauer bleibt, schließlich erreichen sie völlig erschöpft die Großstadt Lagos, die damalige Hauptstadt von Lagos.

JAN GALLI

Der Plan war eigentlich genial, oder wenigstens ziemlich gut. Johannes hatte einen Nigerianer in Berlin kennengelernt. Er heißt Victor, ist Fliesenleger und kommt gerade aus Italien. Das Flüchtlingscamp, in dem er wohnt, zieht ihn runter, er wünscht sich Arbeit. Übrigens etwas, dass uns immer wieder auf unseren Touren durch die Asylbewerberheime begegnet ist. Die verzweifelte suche nach Arbeit. Victor hat die letzten zehn Jahre in Libyen gearbeitet, bis der Krieg kam. Der Plan war, Victor aus Berlin zu uns nach Stuttgart kommen zu lassen, damit er hier einer schwäbischen Familie das Bad fliest. Soweit alles gut.

Wir fanden die Idee, dass wir durch unser Buch und unseren Film, tatsächlich etwas bewirken können und so jemand wie Victor einen Job vermitteln, absolut gigantisch. Kunst schafft Integration. Johannes meldete sich dann eines Tages - die Fahrt für Victor war schon gebucht - und erklärte am Telefon: die schwäbische Familie hätte es sich anders überlegt. Er hatte ihnen dummerweise mitgeteilt, dass Victor Schwarzer ist, jemand anderes legt nun für sie die Fliesen. Es gab keine direkte Absage, also, dass sie es wirklich von der Hautfarbe abhängig machen, wer bei ihnen die Fliesen verlegt, aber die plötzliche Absage nach diesem Detail war schon merkwürdig und ließ viel Raum für Spekulationen.

Jetzt hatten wir nur ein Problem, wir hatten Victor, aber wir hatten keinen Job für ihn. An dieser Stelle kommt unser Produzent Martin ins Spiel. Seit Wochen ist er auf der Suche nach einem geeigneten Platz für die Hochzeit mit seiner rumänischen Freundin Alex, die im dritten Monat schwanger ist und die uns bisher so toll mit ihrem grammatikalischen Wissen zur Seite gestanden war. Jetzt kamen einige Dinge zusammen. Johannes wusste von einem hübschen Garten in Stuttgart, der nur etwas hergerichtet werden müsste, dann könnte man dort wunderbar im Grünen heiraten. Der Plan gefiel auch Martin. Er stimmte zu, und plötzlich hatte Victor wieder Arbeit. Er sollte den verwilderten Garten einer orthodoxen Familie herrichten, damit Martin dort seine rumänische Frau heiraten kann. Soweit so gut.

Victor kam guter Dinge an, er machte sofort einen sehr netten Eindruck. Wir unterhielten uns und er kam gleich zur Sache. Ihn interessiert weder essen, feiern noch sonst irgendetwas, er will arbeiten. Es war Hochsommer, brüllende Hitze. Johannes brachte Victor zu dem verwilderten Garten, am nächsten Tag wollten wir alle in den Garten kommen. Wir hörten von Johannes später, dass Victor voll dabei ist und wie ein Wahnsinniger arbeitet.

Am nächsten Tag machten wir uns dann auf den Weg nach Stuttgart. Ein Gewitter brachte unendlich viel Regen. Und während wir zum Bahnhof rannten, versuchte ich mir vorzustellen, was Victor jetzt wohl machen würde? Er sitzt sicher in dem Garten und schaut aus seiner kleinen Hütte auf den Regen. Wir machten im Zug einige Interviews mit uns selbst, blödelten etwas herum. Versuchten uns die Hochzeit vorzustellen. Martin im Anzug, Alex im langen Brautkleid, dazu ein kleiner Blumenstrauß. Martin musste grinsen. Und das alles Mitten im Grünen. Die Vorstellung war romantisch. Martin gab nur zu bedenken, dass später Alex in den Garten kommen würde, um zu schauen, ob ihr der Plan überhaupt gefallen würde. Wir überhörten dieses Detail, denn wir waren uns absolut sicher, dass ihr der Garten gefallen würde. Gar keine Frage.

Nach einer Stunde waren wir dann endlich da. Das Gewitter hatte sich verzogen, es gab wieder sommerlichen blauen Himmel. Die Besitzerin des Gartens holte uns vom Bahnhof ab und brachte uns ins Grüne. Victor hatte schon ordentlich was von dem Gestrüpp weg gehauen. Er stand mit nacktem Oberkörper im nassen Gras, hatte die deutsche Sense wie eine Machete in der Hand und zerteilte damit Dornen, Sträucher und Äste. Ich fragte Victor gleich, ob ich ihn filmen könne und ob wir später ein Interview machen dürfen. Er war einverstanden.

Martin inspizierte derweil den Garten und machte sich Gedanken, wie er seiner zukünftigen Ehefrau klar machen sollte, dass sie hier trotzdem feiern können, auch wenn der Garten phasenweise ziemlich abschüssig und unwegsam war. Johannes hechtete durch den ganzen Garten und war ständig am telefonieren, was ich ihm irgendwann verbot, weil ich in Ruhe filmen wollte. Als Victor eine kleine Pause machte, die Sense zur Seite legte und mich anschaute, nickte ich ihm zu. Ich hatte in der Zwischenzeit einen Platz für das Interview eingerichtet. Es konnte losgehen. Johannes stellte die Fragen, ich hielt die Kamera. Die Sonne brach durch die Äste, streife sanft über sein dunkles Gesicht. Sein starker Körper hob sich kontrastreich vor dem grünen Gesträuch ab. Mit geübten Bewegungen hielt sich Vito die Fliegen und Mücken auf Abstand. Als er anfing auf Johannes erste Frage zu antworten, war klar, dass er uns etwas geben wollte. In Form seiner Geschichte, wie er seine Flucht, den Krieg erlebt hatte. Man spürte, dass Victor schon viel durchgemacht hatte, er wirkte ruhig und hochkonzentriert.

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